Der kleine Wal

Vor ein paar Jahren machte ein kleines Fischerboot vor der Insel Teneriffa einen ganz besonderen Fang. Als sich das Netz an Bord öffnete, da stach ein leuchtend blaues Etwas unter all den zappelnden Fischen hervor. Die Männer nahmen sich sogleich des außergewöhnlichen Wesens an. Es war gerade einmal so groß wie ein Kaninchen und hatte neben seinem pfauenblau leuchtenden Rücken einen schneeweißen Bauch. Die Fischer diskutierten eifrig über ihren Fund, während einer das Tier in den Armen hielt. Noch nie zuvor hatten sie etwas ähnliches gesehen. Da pustete es lautstark feuchte Luft durch sein Atemloch auf dem Kopf. „Aha, das ist ein kleiner Wal“ meinte einer der Männer. „Muss wohl seine Mama verloren haben“ entgegnete ein anderer.


Sie konnten das Walbaby unmöglich wieder zurück ins Meer werfen. Ohne seine Mutter hatte es keine Überlebenschance. Auf Teneriffa gab es einen sehr bekannten Tierpark, den Loro Parque. Hier gab eine Aufzuchtstation und die größte Papageiensammlung der Welt, riesige Aquarien und ein Delfinarium. So brachten die Fischer den kleinen Wal in den Loro Parque.


Die Tierpfleger staunten nicht schlecht über den leuchtend blauen Neuankömmling. Dieser hatte keinerlei Scheu vor Menschen – ganz im Gegenteil. Er suchte sogar ihre Nähe, quietschte vergnügt und zwinkerte mit seinen fröhlichen dunklen Knopfaugen. Man holte den Zoodirektor. „Nun ja, wir sind eigentlich auf das Aufpäppeln von Papageien spezialisiert aber unser Delfinarium könnte unserem kleinen Kerl eine ganze Weile genug Platz bieten.“ Da zupfte jemand an seiner Hose. „Wir sollten ihm einen Namen geben“ sagte seine 12 jährige Tochter Lara, „Wie wäre es mit Felix?“ „Wir wissen doch noch nicht mal sein Geschlecht“ rief einer der Pfleger. „Dann taufen wir es notfalls in Felicitas um!“ konterte Lara. Darauf mussten alle herzhaft lachen.


Felix stellte sich als äußerst verspielt und schlau heraus. Bald schon hatte er die Kunststücke der Delfine drauf und wollte immer neues lernen. Der kleine Wal wurde zur größten Attraktion des Tierparks. Fernsehteams aus der ganzen Welt berichteten über ihn. Führende Biologen rätselten herum. Sollte es sich tatsächlich um eine bisher unbekannte Art handeln? Und warum wuchs er nicht? Oder war er bereits ausgewachsen?


Lara und Felix wurden ganz dicke Freunde. Sie verbrachte jede freie Minute mit ihm und Felix genoss ihre Gesellschaft – besonders ihre Streicheleinheiten. Wenn Lara abends ihren Freund besuchte, wirkte er nachdenklich – ja fast traurig. Dann nahm sie ihn in den Arm und flüsterte ihm leise ins Ohr: „Ich glaub ich weiß, was Dir fehlt.“


In Lara reifte langsam ein Plan. Sie würde damit viele Leute vor den Kopf stoßen, ganz besonders ihren Papa – aber sie musste es tun Felix zuliebe.


Eines Abends wurde der kleine Wal sehr unruhig. Er schwamm aufgeregt hin und her und quietschte gequält. Lara konnte ihn gar nicht beruhigen. Als sie ihn auf den Arm nahm, wollte Felix sich nicht wie sonst streicheln lassen. Er blickte nur unentwegt Richtung Meer. Da wusste Lara, es war nun die Zeit gekommen, ihren Plan in die Tat umzusetzen. „Ich helfe Dir“ flüsterte sie ihm zu.


Sie stellte sich den Wecker auf 3 Uhr in der Nacht. Dann packte sie ihren Rucksack mit 2 großen Flaschen. Diese brauchte sie, damit Felix Haut auf dem Weg zum Meer nicht austrocknet. Es warten nur etwa 500m bis zum Strand aber sicher war sicher. Nun musste sie nur noch Papas Schlüssel stibitzen, dann konnte es los gehen. Der Schlüsselbund lag auf der Kommode im Flur. Lara zuckte zusammen als sie ihn unter lautem Klimpern aufhob. Zum Glück hatten ihre Eltern einen festen Schlaf und bemerkten nichts.


Wenig später war sie bei Felix, der sie mit großer Freude empfing. Sie wickelte ihm in ein feuchtes Tuch – nur sein Köpfchen blieb frei. Sie kamen zum Eingang des Tierparks. Als Lara die Pforte gerade wieder geschlossen hatte, näherte sich laut knatternd ein Mofa. „So ein Mist!“ zischte Lara. Es gab weit und breit keine Möglichkeit sich zu verstecken. Sie deckte Felix rasch zu und tat so als ob sie die Pforte aufsperren wollte. Es war der Zeitungsausträger. Mit einer Vollbremsung hielt er direkt neben ihr, dass der kleine Wal erschrak. Lara konnte ihn gerade noch festhalten. „So früh schon unterwegs Signorina?“ „Mach nicht so einen Lärm Paolo“ fuhr Lisa ihn an. „Was hast Du da?“ wollte Paolo wissen. „Das ist nasse Wäsche vom Baden und jetzt weiter mit Dir bevor Du den ganzen Zoo aufweckst!“


„Das war ganz schön knapp“ sagte Lara erleichtert und deckte Felix wieder auf. Dieser pustete kräftig durch sein Atemloch als wolle er sagen: „Stimmt!“ Nun ging es endlich zum Strand und dort auf einen langen Bootssteg. Während Felix es kaum erwarten konnte in die Freiheit zu kommen, wurde Lara unendlich schwer ums Herz. In wenigen Augenblicken würde sie ihren Freund für immer verlieren. Als sie am Ende des Stegs angekommen warten tauchte plötzlich ein riesiger Fisch auf mit blauem Rücken – nein das war kein Fisch – das war Felix Mama! 


Lara setzte den kleinen Wal auf den Rücken seiner Mutter. Sie spürte, wie das beklemmende Gefühl in der Brust verschwand. Jetzt empfand sie nur noch große Freude für Felix und seine Mama. „Kannst mich gerne mal besuchen!“ Sie küsste seine Stirn und beide tauschten ein letztes mal zärtliche Blicke aus. Dann tauchten die Wale ab.


Lara gestand ihrem Papa sogleich beim Frühstück ihre Befreiungsaktion. Er reagierte überraschend gelassen. „Es ist viel besser so für Felix. Ich weiß ein Zoo kann einem Leben in einer intakten Natur nie das Wasser reichen.“


Lara ging immer wieder zum Bootssteg und setzte sich an dessen Ende. Während sie aufs weite Meer schaute dachte sie an die schöne Zeit mit Felix. Und eines Tages war er tatsächlich wieder da. Felix war ein ganzes Stück gewachsen. Beide begrüßten sich innig und sie durfte auf seinem Rücken reiten. Lara war glücklich. Sie hatte das richtige getan. Der kleine Wal konnte sich nur in Freiheit entfalten und ein großer werden.


Und genauso ist es mit unserer Seele!

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