Opilio

Es war einmal ein junger Schäfer mit dem Namen Opilio. Er hatte erst vor kurzer Zeit die Herde seines unerwartet verstorbenen Vaters übernommen. So führte Opilio eine Familientradition fort, die sich schon über viele Generationen erstreckte. Der Schäfer besaß nur eine kleine Herde mit 99 Schafen und zwei Schäferhunde. Doch der Ertrag aus Wolle und Schafsmilch reichte voll und ganz zum Leben. 


Jeder hatte seine Aufgabe: Der Schäfer versorgte Schafe und Schäferhunde. Die Schäferhunde halfen ihm, die Herde zusammenzuhalten und schützten sie vor Raubtieren. Wenn sich ein Schaf verletzte, kümmerte sich der Schäfer um seinen Patienten. Als Dank für die gute Betreuung spendeten die Schafe zuverlässig beste Wolle und Milch. Alle waren glücklich und es hätte ewig so weitergehen können.


Eines Tages erkrankte ein Schäfer in der Nachbarschaft. Er war nicht mehr in der Lage, seine Herde mit 400 Schafen zu hüten und bot sie Opilio  zum Kauf an. Der junge Schäfer hatte jedoch nicht genug Geld, um die Herde zu erwerben. Also ging er zu seiner Bank und bat um einen Kredit. Der Banker willigte ein. Doch als Sicherheit für den Kredit wollte er beide Schafherden. Somit gehörten die 499 Schafe nun der Bank, bis der Kredit abbezahlt war. Die vereinbarten Raten konnte Opilio bequem abstottern. Dabei bemerkte er nicht, dass die Raten zum Großteil aus Zinsen bestanden. Da er nun deutlich mehr Schafe betreute, verringerten sich seine Haltungskosten und somit erhöhte sich sein Gewinn. Das gefiel Opilio.


Schäfer und Banker trafen sich von nun an regelmäßig im Wirtshaus. Beide wurden gute Freunde. Eines Tages machte der Banker Opilio  einen Vorschlag: „Was hältst du davon, auch anderen Schäfern in deiner Region die Schafherden abzukaufen? Du bekommst dafür wieder einen Kredit von mir.“ Opilio erkannte sofort seinen Vorteil: „Wenn meine Herde noch größer wird, dann kann ich noch effektiver Wolle und Milch produzieren.“ Darauf der Banker: „Aber diesmal nutzt du einen Teil deines Gewinns, um die Preise für deine Produkte zu senken. Denn dann kannst du deine Produkte an Supermärkte und andere Großkunden verkaufen. Alle Schäfer, die mit deinen Preisen nicht mithalten können, sind dann gezwungen, ihre Herden zu verkaufen.“ Opilio entgegnete mit einem breiten Grinsen: „Und mit deiner Hilfe kann ich ihre Herden günstig bekommen.“ Der Banker und der Schäfer rieben sich genüsslich die Hände.


Es war erstaunlich, wie leicht sich der Plan in die Tat umsetzen ließ. Mit dem Geld des Bankers standen Opilio alle Türen offen. Obwohl alle Schafe nach wie vor der Bank gehörten, fühlte sich der Schäfer als immer mächtiger werdender Geschäftsmann. 


Die Vergrößerung der Herde auf mehrere Tausend Tiere ging aber nicht reibungslos vonstatten. Opilio hatte keine Zeit und vor allem keine Lust mehr, sich liebevoll um jedes einzelne Tier zu kümmern. Die Herde wurde immer unruhiger und die Schäferhunde bekamen immer mehr zu tun. Die einst vor Gesundheit strotzenden Schafe wurden immer kränklicher.


Schäfer und Banker trafen sich mittlerweile nicht mehr im Wirtshaus sondern zum Abendessen im besten Restaurant der Stadt. Der Banker hatte noch einen weiteren Gast dabei. Es handelte sich um den Chefredakteur der regionalen Tageszeitung. Der Banker sprach: „Du hast inzwischen so eine große Herde, dass es Zeit wird, etwas für dein Image zu tun. Denn je angesehener du bist, umso mehr Menschen kaufen deine Produkte.“ Der Chefredakteur flüsterte Opilio hinter vorgehaltener Hand zu: “Wir machen dich und deine Schafe zu einer Marke. Jedes Kind wird deine Produkte kennen und lieben.“ Der Schäfer spürte seine Brust vor Stolz anschwellen. Jeder würde ihn schätzen. Er wäre nicht mehr der Einsiedler, der irgendwo in der Natur mit seiner kleinen Herde herumzieht – nein, er wäre endlich eine wichtige Persönlichkeit. Diese Vorstellung gefiel ihm sehr: „Was muss ich tun?“ Die drei steckten ihre Köpfe ganz eng zusammen und der Chefredakteur flüsterte: „Du bewirbst deine Produkte in meiner Zeitung. Dafür berichte ich meinen Lesern immer wieder von dir und deinem Betrieb.“ Der Banker ergänzte: „Natürlich erzählt er nur von deiner Schokoladenseite.“


Bald schon wurden die Produkte des Schäfers unter der Marke SCHAFGUT bei Jung und Alt bekannt. Und da die Menschen gerne Bekanntes kaufen, stieg die Nachfrage nach SCHAFGUT Produkten rapide an. Wenn Opilio nun in der Stadt war, wurde er von vielen Leuten gegrüßt, die er gar nicht kannte. Da er nun ein angesehener Mann war, bot man ihm an, für den Stadtrat zu kandidieren. Doch der Schäfer war viel zu beschäftigt mit seinem wachsenden Betrieb und lehnte dankend ab. 

Die Runde vergrößerte sich. Man traf sich im allerbesten Feinschmecker-Lokal der Region. Der Neue war ein Vertreter eines Pharmakonzerns: „Du wirst staunen, wen ich dir heute mitgebracht habe.“ schwärmte der Banker. Die besagte Firma bot ein breites Sortiment an Medikamenten für die Tierhaltung an. Darunter waren Antibiotika, welche die Tiere vor Infektionen schützen sollten und Hormonspritzen, die den Milchertrag verdoppelten: „Das ist ja Doping!“ rief der Schäfer entsetzt. „Psssssst!!“ Von da an steckten die vier ihre Köpfe so nah zusammen, dass niemand etwas vom Inhalt des weiteren Gespräches mitbekam. Und wahrhaftig, die Milcherträge steigerten sich ins Unermessliche. Opilio konnte nochmals die Preise senken und weitere Schafherden günstig aufkaufen.


Die inzwischen aus hunderttausend Schafen bestehende Herde lebte unter immer schlechteren Bedingungen. Die Tiere standen oft tagelang in ihrem eigenen Mist. Es war so eng, dass sie sich noch nicht einmal zum Schlafen hinlegen konnten. Trotz der Gabe von hoch dosiertem Antibiotika wurden immer mehr Tiere krank. Einige starben sogar. Die Euter mancher Schafe fingen an zu wuchern. Diese Tiere hatten große Schmerzen. Die ersten Schafe begannen ihren Unmut zu äußern. Der Schäfer bemerkte die zunehmenden Tumulte und schaffte sich zusätzliche aggressive Schäferhunde an. Sie sollten wieder Ruhe und Ordnung in die Herde bringen. Die Schafe hatten Angst vor den neuen Hunden, welche alle aufmuckenden Tiere durch Zähne flätschen oder Bisse in die Hinterläufe einschüchterten. So wurde jeder Widerstand im Keim erstickt. 


Diesmal trafen sich der Schäfer und seine Geschäftsfreunde ein ganzes Wochenende in einem Golfhotel. Hier konnten sie ungestört weitere Pläne schmieden. Das neue Mitglied dieser illustren Runde war ein hochrangiger Politiker mit besten Kontakten ins Landwirtschaftsministerium. Er gab bereitwillig Auskunft, wie der Schäfer an staatliche Fördergelder kommen konnte. Dies verschaffte ihm einen weiteren Wettbewerbsvorteil. Damit konnte Opilio seine Waren sogar in großen Mengen im Ausland verkaufen. 


Sein Betrieb wuchs in einem Ausmaß, bei dem Opilio kaum hinterher kam. Es dauerte nicht lange, da hatte er Herden in allen Nachbarländern und über eine Millionen Schafe. SCHAFGUT wurde zur internationalen Marke. Opilio gab die Betreuung der Schafherden komplett an Bedienstete ab und kümmerte sich nur noch um die großen Geschäftsabschlüsse. So wurde aus dem bescheidenen Hirten ein ausgefuchster Manager. Die wenigen Schäfer, deren Herden er noch nicht aufgekauft hatte, nannten ihn inzwischen „Baron von Schafhausen“. 


Ein weiteres Treffen der Geschäftspartner stand an. Sie wählten eine Luxusyacht für ihre streng vertrauliche Konferenz. Der Politiker hatte einen sehr erfolgreichen Anwalt mitgebracht, der beste Kontakte zu Gerichten und Patentamt pflegte. Der Anwalt begann zu sprechen: „Lieber Schäfer, möchtest du keine Konkurrenz mehr haben?“ Opilio scherzte: „Spielen wir nun Monopoly?“ Der Banker fragte: „Warum nicht?“ Der Anwalt hatte eine Möglichkeit entdeckt, Gene patentieren zu lassen. Er erklärte: „Alle Schafe auf der Welt besitzen die selben Gene. Du lässt dir einige dieser Gene patentieren, dann muss jeder Schäfer für seine Schafe an dich Patentgebühr bezahlen.“ Opilio sah den Anwalt mit ungläubigem Blick an. Das klang zu schön, um wahr zu sein. Von nun an könnte er den gesamten Markt beherrschen. Der Banker flüstere ihm zu: „Dafür benötigst du aber einen sehr guten Anwalt.“ Opilio blickte in die Runde. Alle nickten ihm aufmunternd zu. 


Die Zustände in den Schafherden wurden immer katastrophaler. Die Tiere bekamen Kraftfutter und Hormone, um schneller zu wachsen und noch mehr Milch zu geben. Doch immer mehr Tiere erkrankten oder starben trotz steigendem Einsatz von Medikamenten. Die hygienischen Zustände verschlimmerten sich weiter. Viele Tiere litten unter der großen Enge. Der Unmut in den Herden nahm zu.


Eines Tages passierte, was schon längst überfällig war. Einigen Schafen gelang es, den Zaun des Geheges zu durchbrechen. Die Schäferhunde sahen hilflos zu. Immer mehr Schafe strömten durch die Öffnung. Wenig später blockierte eine riesige Schafherde die Straßen – und es wurden immer mehr. Der Verkehr kam in der ganzen Stadt zum Erliegen. Die entlaufenen Schafe machten durch lautes Geblöke auf sich aufmerksam. Der Polizei gelang es nicht, der Lage wieder Herr zu werden. Die Tiere eroberten die Wiesen der gesamten Region.


Reporter von Zeitungen und Fernsehen wurden auf den Tumult aufmerksam. Sie bemerkten den schlechten Gesundheitszustand der Tiere und forschten nach. Bald schon kamen die Machenschaften des Schäfers und seiner Geschäftsfreunde ans Tageslicht. Viele Menschen waren entsetzt und boykottierten von nun an die SCHAFGUT Produkte. Tierschutzorganisationen riefen zu großen Demonstrationen auf, an denen sich viele Bürger beteiligten. Die Proteste dehnten sich weit über die Landesgrenzen aus. 


Für den erfolgsverwöhnten Schäfer brach eine Welt zusammen. Sein Haus war belagert von Journalisten. Er fühlte sich wie ein Hase bei einer Hetzjagd. Die Schlinge der Jäger zog sich immer fester zu. Er bestellte seine Geschäftsfreunde zu sich. Unter Blitzlichtgewitter kamen sie ins Haus. Der Banker meinte: „Das Wichtigste ist, dass die Schafe wieder eingefangen werden. Dann kann die Produktion weitergehen.“ Der Pharmavertreter: „Am besten, du verschwindest für einige Zeit, damit Gras über die ganze Geschichte wachsen kann.“ Der Chefredakteur warf noch ein: „Zuerst sollten wir eine Pressemitteilung veröffentlichen, in der wir die Verbesserungen der Lebensumstände deiner Schafe zusichern.“ Worauf der Anwalt hinzufügte: „Sinnvoll wäre es, deine Firma und die Marken deiner Produkte umzubenennen.“ Sie saßen noch bis spät in die Nacht beisammen, um ihren Schlachtplan auszufeilen. 


Am nächsten Morgen bekam Opilio unerwarteten Besuch. Seine Mutter, zu der er den Kontakt bereits vor Jahren abgebrochen hatte, stand mit einem großen Buch  in der Hand vor der Tür seiner noblen Villa. Sie sah ihm mit traurigem Blick tief in die Augen und reichte ihm das Buch. Ohne ein Wort zu sagen, drehte sie sich um und verschwand in der aufgebrachten Reportermenge.


Opilio stand wie gelähmt da. Als er sich wieder gefasst hatte, richtete er seinen Blick auf das Buch. Es war das alte Fotoalbum seiner Familie. Er setzte sich auf sein weißes Designersofa und begann in dem Album zu blättern. Längst vergessene Erinnerungen an eine glückliche Kindheit wurden wieder in ihm wach. Schon als kleiner Junge hatte er seinem Vater beim Hüten der Schafe geholfen. Er war bei der Geburt vieler Lämmer dabei gewesen, hatte kranke Tiere mit aufzupäppeln und mit den Schäferhunden herumgetollt. Früher liebte Opilio das Spiel der Natur so sehr: Die ersten wärmenden Sonnenstrahlen am Morgen. Den Frühnebel, der wie Watte auf Feldern und Wiesen lag. Den warmen Sommerregen, der die fruchtbare Erde zum Dampfen brachte. Den ersten Schnee, der die Landschaft wie mit Puderzucker bedeckte. Dicke Tränen fielen auf das Fotoalbum. 


Opilio wurde mit einem mal bewusst, was für ein Monster er geworden war. Er hatte die Existenz vieler Schäferfamilien zerstört. Er hatte unzählige Tiere sinnlos gequält und ermordet. Und das alles für Profit, Ansehen und Macht. Seine Geschäftsfreunde und er hatten nur noch an sich gedacht. Opilio fiel in eine tiefe Depression. Er verkrümelte sich in seinem Domizil und ließ niemanden an sich ran.


Eine Woche später gab der angeschlagene Geschäftsmann eine Pressekonferenz. Als er den Konferenzsaal betrat, fühlte er sich wie in einem gegnerischen Fußballstadion. Man konnte die aufgestaute Wut der Journalisten spüren. Nun ergriff Opilio das Wort. Er legte sein Manuskript zur Seite und begann zu sprechen: „Ich habe vielen Tieren und Menschen großen Schaden zugefügt. Das tut mir sehr leid. Es gibt dafür keine Entschuldigung, außer meiner Gier nach Reichtum, Macht und Anerkennung. Ich möchte sie alle dafür um Verzeihung bitten.“ Mit einem Mal herrschte gespannte Stille im Saal. Die Geschäftsfreunde des Schäfers sahen sich mit ungläubigen Blicken an. Opilio sprach weiter: „Ich werde alles dafür tun, die Missstände aufzudecken und zu beheben. Ich gebe mein Unternehmen auf und werde mich dafür einsetzten, dass es wieder kleine Schafherden gibt. Ich bitte Sie, für diese Lösung zu werben. Die Schafe sollen wieder artgerecht leben können. Die Schafprodukte werden eine bessere Qualität haben, sie werden dafür nicht mehr so billig aber ihren Preis wert sein. Und was mir ganz besonders am Herzen liegt: Ich werde mich ab sofort mit ganzer Kraft für die natürlichen Rechte aller Lebewesen einsetzten.“


Mit einer solchen Pressekonferenz hatte keiner gerechnet. Die Reporter aber auch die Bevölkerung blieben misstrauisch. Doch Opilio hielt sein Wort. Er wandelte seinen Großkonzern in eine Stiftung um, und trieb die Regionalisierung der Schafhaltung voran. Hierfür stellte er sein gesamtes Privatvermögen zur Verfügung und wurde nicht müde, sich für eine liebevolle Gesellschaft einzusetzen. 


Der bisher noch nie da gewesene ehrlich gemeinte Sinneswandel eines mächtigen Geschäftsmannes hatte die Wirkung eines Schneeballs, der zu einer Lawine wurde. Quer durch alle Gesellschaftsschichten und unabhängig von jeder Nationalität, begannen die Menschen damit, Korruption aufzudecken und sich ihr zu widersetzen.


Copyright 2015 Janos Hübschmann


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