Folia

1. Akt 


Auf einer saftig grünen Wiese stand ein alter knorriger Kirschbaum. Seine Äste waren bedeckt mit einem Meer schneeweißer Blüten. Wenn man unter dem Baum stand, konnte man das Summen tausender Bienen hören, die eifrig Honig sammelten und dabei unzählige Pollen zur Bestäubung der Blüten verteilten. In wenigen Wochen würde der Baum viele süße, dunkelrote Früchte tragen. 


Nur wenige Tage später war die weiße Pracht verschwunden. Wenn man nun ganz nah an die Zweige des Baumes herankam, konnte man die Geburt vieler kleiner, hellgrüner Blätter beobachten. Wir möchten uns in dieser Geschichte auf eines dieser Blätter konzentrieren.: Nennen wir es Folia. 


Folia erblickte also an einem sonnigen Frühlingstag das Licht der Welt. Sie reckte und streckte sich und begann zu wachsen. Bald war der Kirschbaum übersät von einem hellgrünen Blättermeer. Als Folia ihre volle Größe erreicht hatte, begann sie mit ihrer Arbeit. Sie verwandelte das Sonnenlicht in Energie und gab diese dem Baum, damit seine Früchte wachsen und reifen konnten. Außerdem produzierte sie Sauerstoff für Menschen und Tiere. Folia musste dabei gar nicht nachdenken. Sie wusste immer, wann das Richtige zu tun ist. Es schien fast so, als würde sie von einer unsichtbaren Macht gelenkt. 


Inzwischen war es Sommer geworden. Die Äste und Zweige bogen sich von der Last der vielen Kirschen. Innerhalb weniger Tage stibitzten freche Amseln die süßen Früchte und verteilten die Kerne in weitem Umkreis. Folia bekam nun eine neue Aufgabe. Sie lieferte Energie, damit die Zweige des Kirschbaumes weiter wachsen konnten. 


Schließlich kündigte sich der Herbst mit kühleren Temperaturen und frischem Wind an. In der Früh durchzog ein dichtes Netz aus Spinnenweben die Wiese. Tautropfen glitzerten wie Glasperlen in den ersten Sonnenstrahlen. Folia verwandelte sich nun von einem saftig grünen in ein gelbrotes Blatt. Alle Stoffe, die ihr bisher die grüne Farbe verliehen hatten, gab sie jetzt dem Baum zurück. Sie wusste nicht warum, aber sie tat es einfach. Eines Tages wurde sie von einer Windböe erfasst und landete sanft auf der bereits mit vielen bunten Blättern übersäten Wiese. 


Dann kam der erste Frost. Folia und all die anderen Blätter verwitterten und zersetzten sich. Nach und nach blieb nur noch dunkelbrauner Humus übrig. Es begann zu schneien und ein weißer Mantel überzog die schlafende Natur ...


2. Akt


Die Frühlingssonne schleckte den letzten Schnee von Wiesen, Wald und Feldern. Die Pflanzen und Tiere erwachten aus ihrem langen Winterschlaf. Doch was war aus Folia geworden? 


Abermals erblickte sie das Licht der Welt, streckte sich und reckte sich und sah sich um. Irgendwie kam ihr das alles bekannt vor. Sie erinnerte sich an ihr früheres Leben und begann darüber nachzudenken. Im Frühling hatte sie oft der tagelange Regen genervt. Im Sommer störte sie die brütende Hitze und im Herbst machte der Wind mit ihr, was er wollte. Folia sagte zu sich entschlossen: „In diesem Leben bestimme ich, wo es lang geht!“


Gesagt getan. Folia gelang es, einige Blätter in ihrer Nähe dazu zu bewegen, ihre Wünsche zu erfüllen. Wenn es regnete, dann bildeten sie ein schützendes Dach. An heißen Tagen formten sie einen Sonnenschirm. Bei Wind spannten sie ein großes Segel. Folia war sehr zufrieden. Sie dachte nicht im Traum daran, noch etwas für den Baum zu tun. Sie produzierte keine Energie mehr, weder für leckere Früchte noch für neue Zweige. 


Der Frieden hielt jedoch nicht lange. Einige Blätter auf Folias Ast begannen ebenfalls nachzudenken. Und so kam es, dass sich diese lautstark bei Folia beschwerten: „Wir machen die ganze Arbeit, während du hier faul herumhängst. Das ist nicht fair.“ Folia überlegte kurz und erwiderte dann: „Okay, Ihr habt recht. Es gibt noch so viele dumme Blätter auf unserem Ast. Jeder von euch schnappt sich ein paar von ihnen und lässt sie für sich arbeiten. So können wir gemeinsam unser Leben genießen.“ Die anderen Blätter fanden diesen Vorschlag großartig. „Aber“, flüsterte Folia, „das bleibt unser Geheimnis. Unser Plan funktioniert nur, wenn die meisten Blätter dumm bleiben.“ Die anderen nickten zustimmend.


Es war schon ein seltsamer Anblick. Auf allen anderen Ästen des Baumes gingen die Blätter ihrer Arbeit nach. Die Früchte reiften und die Zweige wuchsen wie jedes Jahr. Doch auf Folias Ast geschah etwas Sonderbares.: Es gab keine Früchte und die Zweige wurden nicht größer. Während einige Blätter auf Folias Ast es ihr gleichtaten und faulenzten, waren die übrigen Blätter damit beschäftigt, ihnen Schatten zu spenden oder sie vor Wind und Sonne zu schützen. 


Eines Tages hatte Folia eine geniale Idee. Warum sollte sie eigentlich immer an der selben Stelle herumhängen? Sie wagte einen Versuch und trennte sich von ihrem Stiel. Sie fühlte sich leicht wie eine Feder und begann auf dem Ast herumzutanzen. Nach einiger Zeit bekam sie großen Durst. Sie kehrte zurück zu ihrem Stiel und trank einen großen Schluck. Das Experiment hatte funktioniert. 


Folia  rief ihre Freunde zu einer Konferenz zusammen. und stellte ihre Entdeckung vor. Zuerst waren die anderen Blätter skeptisch, doch nachdem sie dieses Experiment selbst durchgeführt hatten, kannte die Begeisterung keine Grenzen mehr. Die Meute wurde schon sehr bald übermütig. Sie tanzten nicht nur auf ihrem Ast, nein sie machten immer größere Ausflüge. Wäre da nicht der Durst gewesen, der sie abends wieder zu ihrem Stiel lockte, wären sie in die weite Welt gezogen.


Der Sommer verging wie im Flug. Die Blätter gaben ihren grünen Farbstoffe wieder an den Baum ab. Und was geschah auf Folias Ast? Einige der dummen Blätter beschwerten sich bei Folia: “Wir haben euch den ganzen Sommer über geholfen. Nun aber möchten wir wieder dem Baum dienen. Er benötigt unser Blattgrün, für die Blüten und Blätter des kommenden Jahres.“ „Papperlapapp“, erwiderte Folia zornig und ließ die dummen Blätter einfach stehen. Sie rief ihre Freunde zusammen. Gemeinsam wurde eine List ausgeheckt, um eine große Meuterei zu verhindern. Folia hatte die zündende Idee. Sie ließ alle dummen Blätter des Astes antreten und verkündete: „Eure Forderung ist berechtigt,  doch möchtet ihr nicht bald so ein Leben führen wie ich? Auch ich habe in meinem letzten Leben nur gedient. In diesem Leben wurde ich damit belohnt, dass andere mir dienen. Euch erwartet ebenso ein Wohlstand - aber nur, wenn ihr mir in diesem Leben ohne wenn und aber dient.“ Das leuchtete den dummen Blättern ein. Auch sie wollten einmal so leben wie Folia und ihre Freunde. Und so arbeiteten sie weiter für ein besseres Leben im nächsten Leben.


Als der Herbstwind kam, schwebten auch in diesem Jahr wieder Millionen bunter Blätter zu Boden. Nur auf Folias Ast hatte der Herbst keinen Einzug gehalten. Die Blätter waren noch immer grün, aber doch sie wirkten schon etwas runzelig. Der maßlose Übermut war einer ängstlichen Trübsinnigkeit gewichen. Sie wollten einfach nicht wahrhaben, dass die größten Freuden und auch sie selbst vergänglich waren. Aus diesem Grund malten sie sich grün an. Gab es vielleicht doch eine Möglichkeit,  dem Tod zu entrinnen?


Der erste Frost in diesem Jahr brachte die Antwort. In dieser Nacht erfroren alle Blätter auf Folias Ast und natürlich auch Folia selbst. Sie fielen unsanft auf die Erde nieder und verrotteten, wie all die anderen Blätter des Baumes ....


3. Akt


Folia blinzelte vorsichtig ins helle Sonnenlicht. Ihr Kopf dröhnte, als hätte sie einen schweren Kater. Langsam gewöhnte sie sich an die Helligkeit. Sie reckte sich und streckte sich und begann zu wachsen. Als sie nach unten blickte, sah sie einen völlig kahlen Ast. Er wirkte sehr befremdlich neben all der grünen Pracht. Da erinnerte sie sich an ihr vorhergehendes Leben und wurde von großer Scham erfüllt. Sie und ihre Freunde hatten in ihrem Übermut ganz vergessen, wem sie ihr Leben verdankten. Nun gab es auf diesem Ast keine Blätter, keine Blüten, keine Früchte und keine neuen Zweige mehr und das war alles war Folias Schuld. 


Aber warum lebte sie wieder? Hatte sie ein neues Leben überhaupt noch verdient? Warum war der Baum nicht böse auf sie? Warum gab er ihr weiterhin zu Trinken? Folia überkam eine tiefe Dankbarkeit für diese neue Chance. Sie wollte sich nicht mehr auf Kosten anderer vergnügen. und  beschloss, endlich wieder ihrer Bestimmung nachzukommen.


Folia arbeitete Tag und Nacht für das Wohl des Baumes. Sie produzierte Energie für Früchte und Zweige. und versorgte die Natur mit frischem Sauerstoff. Die Arbeit machte sie nicht müde. Ganz im Gegenteil:. Es freute sie, etwas aktiv zur Schöpfung beizutragen zu können. Sie fühlte sich Eins mit allen Blättern des Baumes, mit dem Baum, mit der Wiese, mit dem Himmel, mit den Wolken, der Sonne – ja sogar mit dem gesamten Sternenhimmel in der Nacht. Folia war von einer tiefen Glückseligkeit erfüllt, die sie bis dahin nicht gekannt hatte. 


Von nun an war jeder Tag ein schöner Tag. Folia freute sich über jeden Sonnenstrahl, mit dessen Hilfe sie Energie herstellen konnte. Sie freute sich über jeden Regentropfen, der ihren Baum und damit auch sie selbst mit Wasser versorgte. Während Folia früher immer etwas unternehmen musste, um Spaß zu haben, war sie nun glücklich, egal was passierte. 


Als schließlich der Herbst kam, freute sie sich darauf, ihr Blattgrün dem Baum für Blüten und Blätter des kommenden Jahres zu schenken. Sie freute sich, als ein sie Windstoß vom Baum riss und durch die Luft wirbelte. Ja sie freute sich sogar, während sie am Boden verwittere, schließlich würde ihr Humus wieder Nahrung für ihren Baum und ihre Wiese sein ...


4. Akt 


Und wieder begann ein neues Frühjahr. Folia  erwachte aus einem langen, tiefen Schlaf. Sie reckte sich und streckte sich. Dann hielt sie inne. Irgend etwas war anders als sonst. Ihre Füße fühlten sich kühl und feucht an. Sie schaute sich um. Statt auf einem Ast, saß sie nun inmitten der saftig grünen Wiese. In der Ferne sah sie ihren guten alten Baum in voller Blütenpracht.


Was war nur passiert? 


Folia wurde größer und größer. Zuerst war sie ein Blatt, doch dann verwandelte sie sich in einen kleinen Stamm. Aus dem Stamm sprossen kleine Äste und daraus kleine Zweige und überall wuchsen neue Blätter. 


Aus Folia war ein neuer Baum geworden. Sie hatte alles gelernt, was ein Blatt nur lernen kann. und war nun reif für ihre neue Aufgabe. 


Copyright 2015 Janos Hübschmann


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